Weibliche und männliche Patienten zeigen unterschiedliche Symptome und reagieren anders auf Medikamente.

Bis heute werden viele Krankheiten und Therapien in Studien vor allem an Männern untersucht. Erkenntnisse blenden weibliche Aspekte oft weitgehend aus. Die Gender Data Gap, wie Forschende die Lücke nennen, hat einen Grund: Männer weisen keine starken hormonellen Schwankungen auf, werden nicht schwanger und kommen nicht in die Wechseljahre. Der Hintergrund, warum Teilnehmerinnen aus der Pharmaforschung lange ausgeschlossen wurden, war der Contergan-Skandal in den 1960-er Jahren. Das Beruhigungs- und Schlafmittel hatte in der Schwangerschaft zu einer Häufung von Fehlbildungen geführt. Zum Schutz des ungeborenen Kindes schloss man in der Folge gebärfähige Frauen von klinischen Studien aus.

 

Diese Aspekte verkomplizieren Tests mit Frauen und machen sie auch deutlich teurer. Aus diesem Grund sind sogar Versuchstiere meist männlich. Dank Vorgaben kommt heute zwar keine Studie mehr ganz ohne Probandinnen aus. Doch ihr Anteil ist häufig immer noch so gering, dass er statistisch so gut wie nicht ins Gewicht fällt. Doch aus dieser Forschungspraxis werden immer noch Behandlungsempfehlungen für Frauen abgeleitet. Trauriges Fazit: Nebenwirkungen von Medikamenten sind bei Frauen um 30 Prozent höher. Sie leiden zum Beispiel bei der Krebs-Therapie unter stärkeren Nebenwirkungen der Medikamente und brechen die Behandlung daher häufiger ab. Beispiel: Bei einem Schlafmittel in den USA waren bei Frauen am Morgen immer noch erhebliche Mengen im Blutspiegel nachzuweisen. Das führte sogar zu tödlichen Autounfällen. Die Food and Drug Administration in den USA empfahl daher, Frauen nur noch die halbe Dosis zu verschreiben.

Wie ein Medikament im Körper reagiert und ausgeschieden wird, hat viel mit dem Anteil und der Verteilung von Fett, Muskelmasse und Wasser im Körper zu tun. Frauen haben generell einen höheren Fettanteil und weniger Muskeln als Männer. Außerdem scheiden Männer Medikamente in der Regel schneller aus als Frauen. Unterschiedliche Wirkweisen sind vor allem bei Schmerzmitteln, Herz-Kreislauf-Medikamenten wie Blutverdünnern und Antidepressiva bekannt.

Was ist eigentlich Geschlechtergerechte Medizin?

In den 90er Jahren erkannten Forschende die Unterschiede zwischen Männern und Frauen mehr und mehr an. So entstand die Fachrichtung der Gendermedizin. Sie beschäftigt sich inzwischen auch mit den feineren biologischen Differenzen. Untersucht wird, wie das Geschlecht Krankheitsentstehung, Symptomatik, Diagnose und Therapie beeinflusst. Bekannt ist, dass auch soziokulturelle Aspekte, etwa unser Gesundheitsbewusstsein und der Lebensstil, vom biologischen Geschlecht dominiert werden. Männer gehen zum Beispiel seltener zur Vorsorge. Außerdem haben Ärzte und Ärztinnen mitunter selbst Vorurteile, was typisch zu sein hat für Mann und Frau. Solche Vorstellungen können Diagnose und Behandlung beeinflussen. Dank neuer Forschungsansätze der gendersensiblen Medizin gibt es inzwischen innovative Ansätze, bestimmte Krankheiten zu behandeln. Fragen Sie beim nächsten Arztbesuch doch nach, ob die für Sie bestimmte Therapie möglicherweise entsprechend angepasst werden sollte.

Worin unterscheiden sich Männer und Frauen besonders?

Das Immunsystem wird bei Frauen wesentlich durch das weibliche Hormon Östrogene aktiviert.

Die Forschung hat herausgefunden, dass Frauen häufig von der Natur begünstigt sind. So wird etwa das Immunsystem bei Frauen wesentlich durch das weibliche Hormon Östrogene aktiviert. Frauen erkranken daher seltener an Krebs und wenn, haben sie eine bessere Prognose, mit der Krankheit länger zu leben. Bei Infektionskrankheiten verhält es sich ähnlich: Das war auch in der Corona-Pandemie zu beobachten: Deutlich mehr Männer mussten auf Intensivstationen versorgt werden und es gab unter ihnen auch mehr Todesfälle als bei Frauen. Doch Frauen haben auch biologische Nachteile: Sie leiden öfter an Allergien, Unverträglichkeiten und sind häufiger von Nebenwirkungen bestimmter Medikamenten betroffen. Auch Autoimmunkrankheiten sind tendenziell weiblich, wenn das Immunsystem sich gegen den eigenen Organismus richtet.

Männer und Frauen: die häufigsten Unterschiede

SCHMERZ

Körperliche Qualen werden je nach Geschlecht oft sehr unterschiedlich wahrgenommen. Und deshalb nicht immer passend therapiert.

Frauen leiden öfter unter chronischen Schmerzen. Sie klagen beim Arzt über stärkere, andauernde Probleme – und über deutlich mehr schmerzende Stellen. Das führt unter Umständen zu der Unterstellung, sie würden übertreiben. Eine Studie zeigte, dass Schmerztherapeuten und Medizinstudenten, welche die Beschwerden von männlichen und weiblichen Patienten einschätzen sollten, das Leiden von Frauen weit schwächer bewerteten. Die Geschlechter wurden von ihnen außerdem unterschiedlich behandelt: Männern bekamen Schmerzmittel – Frauen eher den Ratschlag, zur Psychotherapie zu gehen. Forschungen haben mittlerweile jedoch gezeigt, dass Frauen einfach schmerzsensibler sind: Die Sensoren ihres Nervensystems, welche die Schmerzreize aufnehmen und ans Gehirn weiterleiten, sind empfindsamer als bei Männern. Ursache dürften die weiblichen Hormone sein, allen voran Östrogen und Progesteron. Auch ein Grund, warum Frauen vor allem vor den Wechseljahren von Migräne geplagt werden. Nach der Menopause sinkt der Hormonspiegel, Kopfschmerzen werden dann oft seltener oder bleiben ganz aus.

Männer suchen bei Schmerzen im Vergleich zu Frauen erst später medizinische Hilfe. Dadurch sind bei ihnen Schäden, zum Beispiel bei Arthrose an den Gelenken, oft bereits ausgeprägter. Ratsam wäre: Besser schon bei leichten Schmerzen einen Termin in der hausärztlichen Praxis vereinbaren. Wie wichtig das ist, haben Wissenschaftler an der McGill University in Montreal schon vor vielen Jahren im Tierversuch nachgewiesen. Sie fanden heraus, dass die Chronifizierung von Schmerz bei männlichen und weiblichen Mäusen völlig anders verläuft. Auch wenn Mäuse keine Menschen sind, ist das Ergebnis für die Forschung interessant. Weitere Untersuchungen deuten darauf hin, dass je nach Geschlecht unterschiedliche Medikamente zur Schmerztherapie nötig wären.

PSYCHE

Immer mehr Menschen, Männer wie Frauen, leiden unter seelischem Druck. Gleichberechtigung in der Therapie gibt es aber noch nicht.

Frauen sind durch ihre Hormone größeren und häufigeren Stimmungsschwankungen unterworfen. Naturgemäß sind sie etwa von Depressionen oder Psychosen rund um die Schwangerschaft betroffen. Auch kurz vor Beginn der Periode und später im Leben während der Wechseljahre erleben viele Frauen Stimmungsschwankungen und Stimmungstiefs. Generell werden bei Frauen öfter als bei Männern Depressionen, Phobien und Angststörungen diagnostiziert – vielleicht, weil sie eher Hilfe suchen als Männer und offener über seelische Leiden sprechen. Durch entsprechende Therapien haben Frauen leichter Zugriff auf Medikamente. Das hat jedoch auch eine Schattenseite: Manche Arzneien können abhängig machen. Laut einer Studie sind Frauen häufiger medikamentenabhängig als Männer.

Männer sollten mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin nicht nur über körperliche Beschwerden, sondern auch offen über ihre seelischen Empfindungen sprechen – auch wenn es Überwindung kostet. Sonst bleiben Depressionen, Angststörungen und Stresssymptome unentdeckt. Die typisch männliche Verschlossenheit kann durch eine geschlechterspezifische Erziehung und Sozialisation geprägt sein: Etwa, wenn schon Kindern empfohlen wird „wie ein Mann“ die Zähne zusammenzubeißen.

Ein Problem bei der Diagnosestellung sind die PHQ-9 Fragebögen, mit denen Therapeuten und Therapeutinnen die Symptome einer Depression ermitteln. Der Fragenkatalog beschreibt jedoch schwerpunktmäßig frauentypische Auffälligkeiten: Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit. Ein Grund, warum Depressionen doppelt so oft bei Frauen festgestellt werden. Männer, die unter depressiven Episoden leiden, werden dagegen mitunter eher aggressiv, greifen häufiger zur Flasche oder nehmen Drogen. Untersuchungen zeigen: Ändert man die Fragestellungen entsprechend, tauchen Depressionen bei Männern genauso häufig auf wie bei Frauen. Legt man die Zahl der durch Depressionen bedingten Krankheitstage zugrunde, kämpfen Männer sogar noch häufiger mit Schwermut und Antriebslosigkeit. Auch, weil sie grundsätzlich weniger auf ihr seelisches und körperliches Wohlbefinden achten, wie es im „Bericht zur gesundheitlichen Lage der Männer in Deutschland“ des Robert Koch-Instituts (RKI) heißt.

HERZ

Infarkte haben nur Männer? Frauen sterben jedenfalls öfter daran. Zudem wird bei ihnen die Attacke oft nicht erkannt.

Frauen sind bei einem Herzinfarkt im Schnitt zehn bis 15 Jahre älter als betroffene Männer. Vermutlich wird haben weibliche Hormone einen schützenden Effekt. Das bedeutet jedoch, dass die Gefahr fürs Herz nach der Menopause steigt. Auch eine vorzeitige Menopause erhöht das Herzinfarkt-Risiko. Tatsächlich sind starke Schmerzen in der Brust bei beiden Geschlechtern das Hauptsymptom. Doch Frauen beschreiben sie oft anders: Sie sprechen eher von Abgeschlagenheit oder von Magenschmerzen, die in den Brustkorb ausstrahlen. Deshalb wird die Herzattacke häufig nicht sofort erkannt.

Männer haben Glück im Unglück. Bei den typischen Symptomen denken Behandelnde schnell an Herzinfarkt: Schmerzen in der Brust, Taubheitsgefühle in den Armen oder Beinen. So bekommen Männer in der Regel schneller Hilfe als Frauen. Deutlich wird dies daran, dass nur 37 Prozent nach einem Infarkt sterben, während es bei Frauen 43 Prozent sind – obwohl von 100 Betroffenen 60 Männer sind.

Eine Gemeinsamkeit vereint die Geschlechter: die Risikofaktoren Rauchen, Übergewicht, Bewegungsmangel, Stress und Typ-2-Diabetes betreffen Männer wie Frauen.

DIABETES

Der Stoffwechsel funktioniert bei Männern und Frauen anders. Das hat Folgen für den Blutzucker.

Frauen benötigen in der Regel mehr Insulin als Männer, kommen aber trotzdem seltener auf den Blutzucker-Zielwert und riskieren eher eine Unterzuckerung. Das zeigt etwa eine italienische Studie: Bei gleicher Therapie war der Blutzucker von Frauen viel schlechter eingestellt. Ursache ist wieder der weibliche Hormonhaushalt, welcher die Diabetes-Erkrankung stark beeinflussen kann. Das hormonelle Auf und Ab von Progesteron und Östrogen während des weiblichen Zyklus‘ kann Auswirkung auf den Blutzuckerspiegel haben. Patientinnen mit schwankenden Werten sollten ihren Arzt darauf ansprechen und nach Absprache gegebenenfalls ihre Insulingabe anpassen.

Männer erkranken an Typ-2-Diabetes durchschnittlich in jüngeren Jahren als Frauen. Weil in vielen früheren Studien weit mehr Männer berücksichtigt wurden, ist die Wirkung der meisten Medikamente an ihnen gut bekannt. Sie leiden deshalb seltener unter Nebenwirkungen. Männer sind allerdings häufig nachlässiger mit ihrer Gesundheit. Die Gefahr: Ein schlecht behandelter Diabetes hat Spätfolgen vor allem für Männer. So leiden 25 bis 50 Prozent der Betroffenen an Erektionsstörungen. Auch Nervenschäden an den Füßen und Beinen betreffen mehr Männern – sie verschlechtern sich bei ihnen auch schneller.

Fazit: Mehr Achtsamkeit rund um Körper, Geist und Seele würde vielen Männern nützen. Frauen sollten bei anhaltenden gesundheitlichen Problemen mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin über geschlechterspezifische Therapieoptionen sprechen. Lehre und Forschung in der Medizin widmen sich zunehmend den biologischen und soziokulturellen Unterschieden zwischen Frauen und Männern, um die sogenannte Health Gap zu schließen – eine Entwicklung, von der beide Geschlechter profitieren.